Herbst 1978, Teil 1 - Die Mauer
1
Die Mauer war leicht dreißig Zentimeter dick und trennte den heutigen Gastraum mit der Bühne von einem engen Thekenbereich. Das war auch in den Siebzigern nicht attraktiv.
Vielleicht ein Dutzend Leute wohnten zu dieser Zeit in den Gästezimmern der ehemaligen Wirtschaft ‚Bärenklause‘ in der Huglfinger Kieswerksiedlung. Sie versammelten sich jeden Abend spontan am alten Ausschank und arbeiteten kreativ akribische Zukunftspläne aus. Die meisten von ihnen kannten sich aus der Katholischen Jugend, wo sie damals eine “Nonkonformistische Gruppe” ins Leben gerufen hatten. Das war im Bistum nicht gut angekommen. Um herauszufinden, ob es sich um Ketzer, Häretiker oder Renegaten handelte, wurden die Grünschnäbel nach Augsburg einbestellt und der Diözesanjugendleiter erklärte ihnen bei Saft und Plätzchen die Spielregeln: Wollten sie weiterhin an den Segnungen der Kirche und der finanziellen Ausstattung ihrer Jugendarbeit teilhaben? Dann schwören wir jetzt mal bitte dem verwerflichen Namen und seinem damit verbundenen Gedankengut ab - umgehend.
“Ihr wollt doch den lieben Gott nicht beleidigen!”
Mooment. Mit Betonung auf dem ‚o‘. Eine halbe Kippe, Sekundenbriefing der Sektierer unter Ausschluss der Geistlichkeit. Im Resultat: Niemand beleidigt hier irgendwen, und genauso wenig schwört irgendwer irgendwas, und schon gar nicht ab.
“Es fällt kein Spatz vom Himmel, wenn der gute Vater es nicht will”, entgegneten sie dem Kirchenvertreter und verabschiedeten sich in aller Form.
„Wie bist denn jetzt auf deen Spruch kommen?“ hat einer gefragt, als sie wieder draußen waren.
„So halt“, war die Antwort. Und damit war die “Nonkonformistische Gruppe der katholischen Jugend Weilheim” final gegründet.
Ungefähr fünf Jahre später standen sie also im Keller der Waldstraße Nummer 4 und überlegten, wie aus dem alten Dorfwirtshaus eine ordentliche Kneipe werden könnte.
Man darf sich das ungefähr so vorstellen ...
2
Ortsbegehung durch die Start-Ups Christoph, Moni, Benno und Molli, wie der Bäda damals nach dem russischen Erfinder Molotow genannt wurde. Also dem mit dem Cocktail. Tatkräftige Unterstützung erfahren sie durch eine beliebige Anzahl WG-Bewohner sowie durch Edi, den Boxerhund von gegenüber. Edi hat eigentlich strenges Verbot, sich mit den langhaarigen Trollen, die neuerdings die Bärenklause bevölkern, einzulassen, und demzufolge ist er eigentlich gar nicht da.
Die Räume der alten Gaststätte leiden unter Kontrollzwang. Ein freudloses Kabuff grenzt an einen besseren Flur mit Ausschank, alles ist muffig und atmet den Geist der Fünfziger.
Wie sie im Thekenbereich zusammenstehen, spricht einer es aus: “De Mauer muaß weg!”
Ein altersschwacher Barhocker steht herum; Christoph prüft ihn sorgfältig, bevor er sich setzt.
“De bring ma ned raus”, wird er gesagt haben. “Des is a Tragende.”
Spätestens jetzt zündet sich der Molli eine Gauloises an, die er für den Rest der Unterhaltung im Mundwinkel behält.
“So wie die beinander is ... da müsst’ ma schon sprengen ...” Ein Moment der Stille.
Bevor’s zu nonkonformistisch wird, mischt sich der Ferdl ein.
“Da ghört ein Peiner eingezogen”, sagt er. “Dann können wir unterhalb das Material rausbrechen.” Ferdl ist Statiker.
“Mit’m Duss? Diese Mauer?”
“Naja, schon was Größers.“
Ein Schritt zurück, soweit das halt geht. Eine fachmännische Abschätzung.
„An Presslufthammer. Den leih ma. Es is einfach Tiefbau, da hilft nix. Ich rechne euch die Traglast aus. Den Peiner bstelln wir über den Caruso und der Hipper liefert.”
Die Sache wird vorstellbar.
Letztlich ist es der einzige Weg. Sie ordern den Stahlträger, und wenige Tage darauf setzt draußen im Hof ein Kompressor ein, der erst nach einer guten Woche wieder zur Ruhe kommen soll.
Gearbeitet wird in Schichten. Zentimeter für Zentimeter schälen sie das betonverfüllte Mauerwerk herunter, das Bärenklaus’sche Nebenzimmer mutiert zum Kieswerk, produktiver als der Saffer beim Kargsbichl - dort machen die nicht so viel Staub. Unter Beton in jeder Körnung verschwindet der Riemenboden, und wer die Luft schneiden wollte, bräuchte eine Flex. Es ist, als würden auch sie selbst im Nebel verschwinden. Wenn ihnen die Nachbarn auf der Straße begegnen, schauen sie aus dem Auto heraus durch sie hindurch, und selbst der Edi geht zwar nicht heim - man soll nicht übertreiben - aber er verzieht sich doch auf die Couch im ersten Stock. Erst spätabends steht er wieder auf, graue, nonkonformistische Spuren hinterlassend, wie ein Geist, ein Gespenst, das sich gerade noch retten konnte, bevor der Tag es erwischt.
Wenn’s zwischendrin reicht - also in sehr regelmäßigen Abständen - fährt einer los und holt frisches Dachs. Dann sitzen sie auf dem Leergut in ihrem persönlichen Steinbruch, tanken auf, machen Pause.
Der Kare, ein kräftiger Mensch, war dran mit dem Hammer. Er hat sich tapfer gegen das Betonmassiv gestemmt, doch schon nach zehn Minuten muss er aussetzen. Sein Kopf glüht, er kriegt kaum Luft unter seiner Staubmaske.
“Ganz sche zach. Vielleicht sollt’ ma’s einfach wieder zuaputzn, und guad is’. Immerhin ham de vor uns a scho a Bier ausgschenkt.“
„Des schaff ma scho“, meinen alle, die grade nicht dran waren. Und Martin lobt einen Preis aus: “Wenn ma’s bis zum Wochenend einigermaßen ham, mach ma a Baustellenfest. Des is mei Geburtstag, i gib oan aus.”
“Ein feiner Zug”, sagt Christoph.
“Unbedingt”, sagt der Molli. “Nacha hol ma doch glei an Banzn, ... zwoa ...“
3
Ob es die Aussicht auf das Fest war, oder was auch immer, jedenfalls schaffen sie es zuletzt. Den Peiner tragen noch Stützen, aber sonst ist die Mauer dahin. In der verbliebenen Außenwand nurmehr ein senkrechter Riss, trockener Schorf vom Boden bis zur Decke. Der Raum ist aufgemacht, atomisiert liegen die Trümmer zu ihren Füßen, obenauf die verschlissenen Schutzmasken. Gerade als am Samstagmittag der Leonhard mit dem Bier im Käfer die Einfahrt herunter rollt, kapituliert der letzte Beton.
Durchatmen.
“Jetzt kann’s Oberland kommen”, sagt einer.
Das Oberland kommt mit dem Auto. Wadltief zwischen Schluff und Schotter wird gefeiert, der Krach ist in der Nacht kaum leiser als während der Baustelle, dafür relevanter, rein inhaltlich, gewissermaßen. Alle sind gut drauf, nur die Nachbarn, zwischen zwei Arbeitstagen, drehn sich lieber weg, suchen Zuflucht in ihren Wohnzimmern. Dem Crashkurs in Sachen zeitgenössischer Musikgeschichte entgehen sie trotzdem nicht, und der Edi, wie Phönix aus der Asche, läuft erleichtert zwischen den Leuten herum.
(Fortsetzung folgt)